Heike Oberpichler-Schwenk
Ende des 20. Jahrhunderts wurde der pharmazeutischen Industrie häufiger vorgeworfen, sie kümmere sich aus Gewinnerwägungen nur um die „großen“ Erkrankungen mit zahlreichen Betroffenen; seltene Erkrankungen würden vernachlässigt, weil die Arzneimittel hierfür nicht lukrativ seien. Um Anreize für die zweifellos kostenträchtige Entwicklung von Arzneistoffen für die Behandlung seltener Erkrankungen („orphan diseases“) zu schaffen, wurden Regularien wie die Verordnung über Arzneimittel zur Behandlung seltener Leiden geschaffen, die im Jahr 2000 in der EU in Kraft trat. Als selten gelten demnach lebensbedrohliche oder schwere chronische Erkrankungen, die höchstens 5 von 10000 EU-Bewohnern – inzwischen also knapp 250000 Personen – betreffen. Die Verordnung garantiert für sogenannte Orphan-Drugs bei entsprechender Marktzulassung 10 Jahre Marktexklusivität und erlaubt weitere Anreize durch die Europäische Kommission; dazu gehört zum Beispiel der teilweise Erlass von Zulassungsgebühren.
Das Konzept hat offenbar Früchte getragen. Von 2000 bis Anfang Februar 2012 wurden bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) 1417 Anträge auf Anerkennung eines Wirkstoffs als Orphan-Drug gestellt und 945 Anerkennungen ausgesprochen. Dabei hat sich die Zahl der jährlich gestellten Anträge zwischen 2001 und 2011 verdoppelt (von 83 auf 166), die Zahl der Anerkennungen stieg von 64 auf 107 (2010: 128). Der Antrag auf Anerkennung als Orphan-Drug muss vor einem Antrag auf entsprechende Marktzulassung gestellt werden. Inzwischen sind in der EU über 60 Arzneimittel mit Orphan-Drug-Status zugelassen. 20 weitere befinden sich im Zulassungsverfahren, wie der vfa (Verband der forschenden Pharmaunternehmen in Deutschland) in einer Pressemitteilung anlässlich des „Tages der Seltenen Erkrankungen“ am 29. Februar mitteilte.
Eine wichtige Triebfeder für das wachsende Engagement der Arzneimittelhersteller dürfte die Marktexklusivität sein, zumal in den letzten Jahren die Umsätze bei den „großen“ Indikationen durch regulatorische Maßnahmen beschnitten wurden. Immerhin 24 der Arzneimittel mit Orphan-Drug-Status dienen zur Behandlung von Erkrankungen, für die es in der EU mehr als 100000 Erkrankte gibt.
Als erste Arzneimittel mit Orphan-Drug-Status wurden im August 2001 Replagal® (Wirkstoff Agalsidase alfa) und Fabrazyme® (Agalsidase beta) zugelassen. Im letzten Jahr gab es in der EU fünf Zulassungen für Arzneimittel mit Orphan-Drug-Status: Esbriet® (Pirfenidon), Tobi® Podhaler (Tobramycin), Votubia® (Everolimus), Plenadren® (Hydrocortison-Tabletten zur Behandlung von Nebenniereninsuffizienz; noch nicht auf dem Markt) und Vyndaqel® (Tafamidis). Diese Beispiele veranschaulichen, dass die Marktzulassung mit Orphan-Drug-Status sich auf die seltene Indikation bezieht, nicht auf den Arzneistoff. Derselbe Arzneistoff kann unter anderem Handelsnamen auch ohne Orphan-Drug-Status zugelassen sein (z.B. Afinitor® [Everolimus] zur Behandlung des Nierenzellkarzinoms und neuroendokriner Tumoren pankreatischen Ursprungs).
Bei seiner Februar-Sitzung empfahl das Committee for Orphan Medicinal Products (COMP) der EMA für sieben Arzneistoffe die Anerkennung als Orphan-Drug, unter anderem für Genistein-Natrium zur Behandlung der Mukopolysaccharidose Typ III, Melatonin zur Behandlung der perinatalen Asphyxie, Linsitinib zur Behandlung des Nebennierenrindenkarzinoms, Natriumthiosulfat zur Behandlung der Calciphylaxie, für ein Antisense-Oligonukleotid und einen Adenovirus-Vektor zum Transfer des humanen RPE65-Gens. Die nächsten Jahre werden zeigen, welche dieser Wirkstoffe Marktreife erlangen.
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