Wie selten ist Tuberkulose?


Heike Oberpichler-Schwenk

Die Mitteilung der European Medicines Agency (EMA) über die März-Sitzung des Committee for Orphan Medicinal Products (COMP) weist zehn Wirkstoffe aus, für die die Anerkennung als Orphan-Drug durch die Europäische Kommission empfohlen wird. Darunter befindet sich Rifapentin zur Behandlung der Tuberkulose. Ein Antituberkulotikum als Orphan-Drug, also Arzneistoff zur Behandlung einer seltenen Krankheit? Bei genauerer Betrachtung stimmt das sogar: Voraussetzung für die Anerkennung als Orphan-Drug in der EU ist eine Prävalenz der betreffenden Erkrankung von weniger als 5 Fällen pro 10000 Einwohner. In Deutschland lag die Inzidenz der Tuberkulose im Jahr 2008 bei 5,5 Neuerkrankungen pro 100000 Einwohner und damit nochmals niedriger als im Jahr 2007 (6,1/100000) [1]. Die Behandlung der Tuberkulose ist langwierig, aber nach Angaben im Bericht des Robert-Koch-Instituts doch in über 80% der Fälle erfolgreich. In der Summe sind pro Zeiteinheit deutlich weniger als 5 pro 10000 (50/100000) Menschen an Tuberkulose erkrankt. In den positiven Stellungnahmen des COMP zu einigen weiteren Antituberkulotika mit weniger griffigen Bezeichnungen wird eine Tuberkulose-Prävalenz von etwa 2 pro 10000 genannt.

Die Tuberkulose also eine seltene Krankheit? Bedingt! Die Zahlen gelten für Deutschland beziehungsweise für den Einflussbereich der Europäischen Kommission. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nennt in ihrer aktuellen Dokumentation eine globale Tuberkulose-Inzidenz von 140 pro 100000 und ein Prävalenz von 170 pro 100000 [2]. Östlich der Europäischen Union finden sich erhöhte Werte zum Beispiel in der Ukraine (Inzidenz 110, Prävalenz 76/100000) und in der Russischen Föderation (110 bzw. 69/100000). Besonders hoch ist die Erkrankungslast aber in Afrika mit einer durchschnittlichen Inzidenz von 350 und einer Prävalenz von 480 Fällen pro 100000. Zu den Brennpunkten gehört dabei Südafrika (960[!] bzw. 610/100000) – wichtig auch für Besucher der Fußballweltmeisterschaft.

Zu bedenken ist auch: Während andere „orphan diseases“ wie die Gaucher-Krankheit, das Nierenzellkarzinom oder das multiple Myelom auf das Individuum beschränkt bleiben, handelt es sich bei der Tuberkulose bekanntlich um eine übertragbare Krankheit. Unter ungünstigen Umständen könnten also vorherrschende niedrige Erkrankungsraten wieder steigen. Zu solchen Umständen gehört die Zunahme mehrfachresistenter Stämme von Mycobacterium tuberculosis. Als „multi drug resistant“ (MDR) werden Stämme klassifiziert, die gegenüber mindestens Isoniazid und Rifampicin resistent sind [3]. Besonders hoch (>6% der Neuerkrankungen) ist die Verbreitung der MDR-Tuberkulose in der Russischen Föderation und ihren Anrainerstaaten. In jüngerer Zeit wurden sogar extensiv-resistente M.-tuberculosis-Stämme identifiziert, die zusätzlich gegenüber Fluorchinolonen und mindestens einem weiteren relevanten injizierbaren Arzneistoff (Amikacin, Capreomycin, Kanamycin) unempfindlich sind (XDR-Tuberkulose) [3]. Besonders hoch (>10%) ist der Anteil der XDR-Stämme unter den MDR-Tuberkulosefällen zum Beispiel in Estland und der Ukraine (und in Japan bei allerdings geringen MDR-Raten). In Deutschland sind die Erkrankungszahlen bislang zum Glück gering (2007: 66 Fälle). Die weltweite Entwicklung ist aber sorgfältig zu beobachten.

Als Orphan-Drug in der EU anerkannt ist übrigens auch Fingolimod zur Behandlung der chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie. Seine Qualitäten (und die anderer oraler Wirkstoffe) bei multipler Sklerose werden auf den folgenden Seiten vorgestellt.

Quellen

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